Über die bipolare Veranlagung

Ich möchte die Möglichkeit zur Diskussion stellen, dass Bipolarität auf eine grundsätzlich nützliche Veranlagung zurückgehen könnte, die nur im Kontext der modernen Zivilisation zu erheblichen Problemen führt. (english version)

Medizinischer Forschungsstand

Der Begriff „bipolare Veranlagung“ ist von aktueller medizinischer Literatur nicht gedeckt. Die medizinische Literatur legt einen klaren Fokus auf die bipolare Störung, wie die folgende Veröffentlichungsstatistik (Stand 30.07.2020, lediglich der Begriff „Bipolar predisposition“ wurde am 23.08.2020 nachgetragen) belegt:

english termspublication countdeutsche BegriffeAnzahl Veröffentlichungen
Bipolar disposition0bipolare Veranlagung0
Bipolar predisposition1bipolare Prädisposition0
Bipolar traits32bipolare Züge0
Bipolar spectrum1183bipolares Spektrum5
Bipolar spectrum disorder715bipolare Spektrums Störung0
Bipolar disorder60.113bipolare Störung185

Bipolare Störungen gehören zu den gefährlichsten Krankheiten unserer Zeit. Doch auch Phänomene, die manche Mediziner unter die Begriffe „bipolar traits“ bzw. „bipolar Spectrum“ fassen, gelten als problematisch.

In seinem höchst lesenswerten populärwissenschaftlichen Buch „Good Reasons for bad Feelings“ widerspricht der Mediziner und Evolutionsbiologe Randolph Nesse ausdrücklich der Annahme, dass die bipolare Störung Produkt unserer Zivilisation ist:
„these disorders are not diseases like eating disorders and substance abuse that are mainly products of modern environments.“ (Seite 253, übersetzt: „Diese Störungen sind keine Krankheiten wie Essstörungen und Drogenmissbrauch, die hauptsächlich Produkte moderner Umgebungen sind.“)

Tiffany A. Greenwood beschreibt die Grenzen des medizinischen Kenntnisstandes in Positive Traits in the Bipolar Spectrum: The Space between Madness and Genius „[…] the mechanisms by which risk variants lead to disease are complex and remain largely unknown.“ (= Die Mechanismen, durch die Risikovarianten zu Krankheiten führen, sind komplex und weitgehend unbekannt)

Thesen eines Ingenieurs

Als Ingenieur bin ich im Bereich der Technik von bipolarem Verhalten umgeben. Die allermeisten Maschinen verhalten sich bipolar, sobald sie schlecht gewartet werden. Schlecht gewartete Maschinen pendeln zwischen den Polen „funktionsfähig“ und „reparaturbedürftig“.

Wird ein funktionsfähiger PID-Regler ohne die notwendige Sachkenntnis in Betrieb genommen, dann wird der Regler typischerweise ein bipolares Ausgangssignal liefern. Das Ausgangssignal wird zwischen den beiden Polen positiver Maximalwert und negativer Maximalwert pendeln und ein Rechtecksignal erzeugen. (natürlich sind auch beliebig andere Fehlerbilder denkbar, und auch mit anderen Typen von Reglern kann man ein bipolares Fehlerbild erzeugen. Den PID- Regler habe ich nur wegen seiner Bekanntheit herausgegriffen)

Ohne die notwendige Sachkenntnis betriebene Maschinen können auch zwischen den Polen „funktionsfähig“ und „Not-aus“ pendeln.

Außerdem ist bipolares oder multipolares Verhalten häufig auch im Bereich der Technik gewünscht. Ihr persönliches Smartphone wird sich multipolar verhalten. Sobald sie ihr Smartphone zur Hand nehmen dürfte es sich am Pol „Höchstleistung“ befinden. Nachdem sie es aber einige Minuten mit Höchstleistung betrieben haben, werden sich intern Temperaturen erhöht haben, weshalb das Smartphone seine Leistung drosselt und zu einem Pol „reduzierte Leistung“ wechselt, um ggf. im weiteren Verlauf zu den Polen „stark reduzierte Leistung“ und „Aus“ zu wechseln.

Die folgenden Thesen sind also durch die Wahrnehmung von bipolarem Verhalten im Bereich der Technik stark beeinflusst.

Energieeffizienzhypothesen

  • Es konnte für eine Horde Homo Sapiens energetisch effizient gewesen sein, wenn kognitive Leistungsfähigkeit und Energieaufnahme der Gehirne innerhalb der Gruppe ungleich verteilt waren. Bei einer typischen Größe derartiger Horden von 20 – 80 Mitgliedern könnte es besonders effizient gewesen sein, wenn nur 5 % der Homo Sapiens dazu veranlagt wären, besonders energieaufwändige Gehirne auszubilden.
  • Es konnte für eine Horde Homo Sapiens energetisch effizient gewesen sein, wenn 95 % ihrer Mitglieder dazu veranlagt gewesen wären, in der Krise die Energiezufuhr des Gehirns zu reduzieren, um die Muskeln besser zu versorgen.
  • Es konnte energetisch effizient gewesen sein, wenn der Anführer / die Anführerin einer Horde dazu veranlagt war in akuter Gefahrensituation sein bzw. Ihr Gehirn auf Hochtouren bzw. in einem Überlastbereich laufen zu lassen.
  • Diese Veranlagung würde zweckmäßiger Weise folgende Züge beinhalten:
    • Kreativität, um Lösungen über Kampf oder Flucht hinaus finden zu können.
    • sprachliche Fertigkeiten, um Lösungsvorschläge effizient vermitteln zu können.
    • charismatische Führungsfähigkeit, um Führung der Horde zu erreichen.
    • übersteigerter Optimismus, um auch in Situationen mit geringer Überlebenschance handlungsfähig bleiben und aktiv eine Lösungsstrategie verfolgen zu können.

Funktionalitätshypothese

  • Die Veranlagung zu einer bipolaren Persönlichkeitsstruktur kann als Form eines Schutzmechanismus gedeutet werden, der bis vor entwicklungsgeschichtlich sehr kurzer Zeit dem Überleben des Homo Sapiens in sozialen Gruppen dienlich war
  • Als die Menschen das Dasein als Jäger und Sammler aufgaben um sich der Technologie der Landwirtschaft und in deren Folge immer weiteren Technologien zu widmen, wäre diese Veranlagung obsolet oder weniger relevant geworden.

„Kultureller Verlust“ – Hypothese

  • Unsere Vorfahren wussten mehr über die bipolare Veranlagung als moderne Wissenschaftler.
  • Sie haben ggf. Hunderte von Stunden damit verbracht, ihre Kinder auf die mit der bipolaren Veranlagung verbundene Belastungen und deren Nützlichkeit vorzubereiten.
  • Als die Menschen sich der Technologie der Landwirtschaft und in deren Folge immer weiteren Technologien zu widmeten, nahm das zunehmende technologische Wissen Raum in ihren Gehirnen ein, der zuvor von anderem Wissen, wie dem Wissen über die bipolare Veranlagung eingenommen worden war
  • Heute sprechen Eltern nicht mehr mit ihren Kindern über die bipolare Veranlagung oder nur dann, wenn eine vollwertige Störung auftritt.

„Gleicher Bauplan“ – Hypothese

  • Dem bipolaren Spektrum jenseits der Störung liegt die gleiche Veranlagung zu Grunde wie der vollwertigen Störung, so wie der hier abgebildete funktionsfähige Turbolader dem gleichen Bauplan folgt wie ein defekter Turbolader. Bildquelle: Wikimedia, Lizenz: BTR / GFDL 1.2 (http://www.gnu.org/licenses/old-licenses/fdl-1.2.html)Turbolader Abgasseite, funktionsfähig
  • Ein defekter Turbolader ist von einem funktionsfähigen optisch mitunter kaum zu unterscheiden. Der defekte Turbolader, dessen  zentrale Bauteile ich freundlicher Weise im Autohaus Schier in Buxtehude fotografieren durfte, zeichnete sich „nur“ dadurch aus, dass er keine Leistung mehr brachte. Als Ursache wurde zu grosses Lagerspiel auf der Abgasseite (linkes Bild) angenommen. Die Kratzer auf der Verdichterseite (rechtes Bild) wären demnach nicht für die Funktion relevant.
  • Turbolader sind primitiv im Vergleich zu einem menschlichen Gehirn. Und doch ist die Spannbreite der bei ihnen möglichen Defekte enorm, wie diese Übersicht über typische Ausfallursachen auf turbotechnik-altmark.de zeigt. Die Autobild schreibt dazu: Wenn der Turbo pfeift. Matsch & Piste schreibt: Der Turbolader, die Diva des Motors.
  • Bereits ein normales Auto ohne Turbolader ist ein gefährlicher Gegenstand. Der Leistungsschub, den ein einwandfreier Turbolader bewirkt, steigert das Gefahrenpotential weiter. Wer würde sich wünschen, dass sich ein unvorbereiteter Jugendlicher in einen Porsche 911 Turbo setzt, ihn anlässt und einfach mal aufs Gaspedal tritt und schaut, was dann passiert?

Überlastschutz – Hypothese

  • Ein Tief bzw. eine Depression tritt nur dann in Erscheinung, wenn die auslösende Krise nicht innerhalb einer Hochphase gelöst werden kann.
  • bis vor entwicklungsgeschichtlich sehr kurzer Zeit folgte die Symptomatik einer bipolaren Veranlagung typischerweise dem folgenden Muster:
    • asymptomatische Phase
    • Krise (Stressor)
    • Hochphase bzw. manische Phase
    • Lösung der Krise
    • asymptomatische Phase

    Diese Hypothese steht im krassen Gegensatz zum gegenwärtigen Kenntnisstand, den der an Bipolar I erkrankte Autor Thomas Melle in seinem autobiographischen Buch Die Welt im Rücken wie folgt beschreibt: „Und wenn eines sicher ist bei einer manischen Phase, dann, dass die Depression folgen wird.“

  • Das Tief bzw. die Depression zwingt den Betroffenen dazu, sich Erholung zu gönnen und eine Phase des körperlichen und / oder psychischen Raubbaus zu beenden. Das Tief tritt jedoch nur in dem Fall auf, dass die Lösung einer Krise nicht innerhalb einer Hochphase bzw. einer manischen Phase gelingt. Also in einem Fall, der aus entwicklungsgeschichtlicher Sicht als Ausnahmefall angelegt ist. Betroffene, die von ihren Eltern über Hunderte von Stunden hinweg auf die bipolare Veranlagung vorbereitet wurden konnten eine Vielzahl von Techniken erwerben, um Raubbau zu vermeiden und damit auch Tiefs zu vermeiden.

Testbarkeit dieser Hypothesen

Auffälligkeiten des Gehirnstoffwechsels bei Menschen mit Schizophrenie und bipolarer Störung wurden bereits von Rodrigo Barbachan Mansur und Elisa Brietzke erkannt und in The „selfish brain“ hypothesis for metabolic abnormalities in bipolar disorder and schizophrenia beschrieben. Sie haben aber anscheinend nicht detailliert den absoluten Energieverbrauch in Gehirnen von Menschen mit bipolarer Störung betrachtet.

Die Energieeffizienzhypothesen sind falsifizierbar

Bereits vor Jahrzehnten haben die Ingenieure den Medizinern mit der funktionellen Magnetresonanztomografie ein wunderbares Werkzeug an die Hand gegeben, um den Gehirnstoffwechsel und damit dessen Energieverbrauch zu lokalisieren, quantifizieren und analysieren.

Wenn die Energiesparstrategien des menschlichen Gehirns noch nicht ergründet wurden, dann ist dies umgehend nachzuholen. Im Rahmen einer derartigen Forschung wird man etwaige Korrelationen von Energieverbrauch und kognitiven Leistungen feststellen.

Dazu wird es natürlich notwendig sein, neben vergleichsweise einfach zu ermittelnden relativen Aussagen, auch absolute Aussagen zu treffen. Wo man sich bisher ggf. begnügt hat mit Aussagen wie: bei einem gegebenen Reiz hat Region X einen um 20% höheren Energieumsatz pro Kubikzentimeter als die Nachbarregionen, sollte man zu absoluten Zahlen kommen wie: Region X verbraucht  Y Joule pro Sekunde und Kubikzentimeter, das Gehirn verbraucht in Summe Z Joule pro Sekunde.

Dass die kognitive Leistungsfähigkeit ungleich verteilt ist und insbesondere nicht Gauss-verteilt ist, ist nach meiner Kenntnis bereits ausführlich erforscht. Es gibt weitaus mehr Menschen mit herausragender Intelligenz, als bei einer Gauss-Verteilung zu erwarten wäre.

Die Funktionalitätshypothese liesse sich durch eine Sammlung von Fallbeispielen belegen, in denen Betroffene die aus einer Hochphase stammende Energie erfolgreich zur Lösung von Krisen einsetzen konnten.

Der Zusammenhang zwischen bipolarer Störung und Stress ist mittlerweile Gegenstand der Forschung, siehe hierzu beispielsweise die Dissertation von Dipl-Psych. Eva Bäzner: Eine Meta-Analyse empirischer Studien zur Frage des Einflusses von Stress auf den Verlauf bipolar affektiver Störungen. Bäzner schreibt: „Psychologische Faktoren, wie Stress oder negative Lebensereignisse als potentielle Auslöser für manische oder depressive Episoden wurden lange Zeit nicht untersucht, ihre Rolle als weitgehend unbedeutend eingeschätzt (Johnson & Roberts, 1995). Erst seit Ende der 80er Jahre wendet sich die Forschung systematisch psychologischen Faktoren zu.“

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