Herr Finke und das Eis

[November 2003]
Der November rückte näher, und Tobias‘ Mutter hatte bereits dreimal nein gesagt. Tobias hatte ihr ganz genau erklärt, wozu er einen Eisiglu im Garten hinter ihrem Reihenhaus bauen wollte. Da würde man so tolle Sachen drin machen können. Und im Frühjahr würde er wegtauen, ohne jeden Dreck zu machen. „Ach, der Herr Finke macht diesen Unfug dieses Jahr wieder?“ hatte sie nur geantwortet. Unfug? Aber sein Protest half nicht. Sie sagte, er sollte sein Taschengeld für nützlichere Dinge ausgeben. Das war so unfair. Frank hatte seine Eltern gar nicht erst zu fragen brauchen. Er hatte sein eigenes Gartenhaus, in dem er tun und lassen konnte was er wollte. Da würde er die ersten zwölf Blöcke einschließen, dass hatte er Tobias schon im Sommer erklärt. Und dann würde er sie auf einen Schlag hinten im Garten aufbauen. Dann hätte er bereits einen fertigen Ring. Und wenn sich dann seine Eltern doch einmal Mitte November in den Garten verirren würden, dann dächten sie bestimmt, der Ring wäre schon immer dagewesen. Da war sich Frank ganz sicher. Tobias‘ Mutter hingegen würde noch Ende November Blumenzwiebeln ausgraben und Beete abdecken. Da konnte er nicht unbemerkt und ohne ihr Einverständnis Eisklötze in Plastiktüten horten. Und wenn er die Blöcke erst einmal auf dem Rasen auslegte, würde seine Mutter durch die geschlossenen Fenster hören, wie ihr adretter Rasen zu frieren begänne. Der vierte und letzte Versuch fand gar nicht erst statt. Tobias hatte seinem Geographielehrer vorgeschlagen, dass ein eigener Eisiglu doch sehr nützlich sei, um Grönland und seine Bewohner besser zu verstehen. Der Lehrer lachte seltsam und fragte „Einen Eisiglu? Dahinter steckt doch der Herr Finke! Der hatte schon ungewöhnliche Methoden, als er noch Lehrer an unserer Schule war. Und Grönland steht überhaupt nicht auf dem Lehrplan!“ und dann erklärte er Tobias noch, dass ein richtiger Iglu aus Schnee gemacht wird und nicht aus Eis. Der November kam heran, und Tobias hatte nichts in der Hand, um seine Mutter doch noch umzustimmen. Am ersten November wollte Tobias am liebsten gar nicht aufstehen, obwohl es ein Samstag war. Frank dagegen hatte sich einen Wecker stellen wollen, um vor den anderen Jungs aus der Straße bei Herrn Finke zu warten. Tobias hatte noch nicht fertig gefrühstückt, als Frank schon an der Tür klingelte. Kaum war er hereingekommen, da schwärmte er auch schon von seinem Eisblock. Der Herr Finke hatte da eine wunderschöne Eins reingemacht, und er war überhaupt als erster bei ihm gewesen. Simon und Torben wären auch noch rechtzeitig gekommen. Aber mehr als drei Iglus machte Herr Finke nicht. Als Tobias daran dachte, dass er nicht der einzige Unglückliche in der Straße war, der keinen Iglu abbekam, ging es ihm gleich ein wenig besser. Am Sonntag ging Tobias mit, um den zweiten Block abzuholen. Viele nannten Herrn Finke seltsam. Das schoß Tobias durch den Kopf, als sie vor dessen Reihenhaus standen. Doch es sah genauso aus wie die Nachbarhäuser. Herr Finke ließ sie gleich herein. Sein freundliches Gesicht, ringsherum von silbrig grauem Haar umrandet, hatte Tobias schon häufig gesehen. Aber in seiner Wohnung war er noch nie gewesen. Er hörte ein eigenartiges Brummen. Herr Finke führte sie in die Wohnung an Regalen mit allerlei seltsamen Dingen vorbei, die Tobias gerne in die Hand genommen hätte. „Das hier ist mein Werkraum“ sagte Herr Finke und machte eine Tür auf. Das Brummen wurde lauter. Die Jungen sahen mehrere Gefrierschränke an der Wand, und in der Mitte eine seltsame Maschine. Die glänzte in der gleichen roten Farbe wie die großen Kessel, die er einmal durch die Fenster einer Brauerei gesehen hatte. „Das ist eine Eismaschine“ erklärte Frank stolz, denn Herr Finke hatte sie ihm ja bereits am Vortag gezeigt. „Und das ist das Eis, das ich damit mache“ sagte Herr Finke, öffnete einen Gefrierschrank und zeigte auf einige große Kästen, von denen er einen herauszog. „So ein riesiger Eiswürfel!“ Tobias war beeindruckt. „Aber ist das nicht eine große Energieverschwendung? Meine Mutter sagt mir im Sommer immer, ich soll nicht so viel Eis in die Limonade tun. Sie sagt, das ist Energieverschwendung.“ „Im Gegenteil“ antwortet er, „aber wie soll ich das Euch erklären? Das hat mit Physik zu tun, und Ihr hattet wohl noch keine Physik in der Schule, oder?“ Die beiden schauen ihn neugierig an, und schütteln beide den Kopf. „Ihr wollt es wirklich wissen? Dann darf ich Euch vielleicht auf einen Tee einladen? Und Euer gutes Stück stelle ich erst mal wieder kalt. Sie legten ihre Mäntel ab und folgten ihm in die Stube. Dort prasselte ein Feuer im Kamin. „Das ist Energie“ sagte Herr Finke und zeigte auf das Feuer. „Und das hier natürlich auch“ – damit meinte er den Tee, den er den Jungen soeben einschenkte. „Und wenn das beides Energie ist, was ist dann das Gegenteil von Energie?“ „Die Eisblöcke in Ihrem Werkraum?“ Herr Finke schmunzelte bei Franks Antwort „das war eine Falle, es gibt kein Gegenteil von Energie. Aber die Richtung stimmt gewisser Weise. Das Eis ist aus Wasser gemacht, dem ich die meiste Energie weggenommen habe.“ Die beiden staunten ihn an. Sehr gerne hätte er es ihnen genauer erklärt. Denn er sprach sehr gerne über Wärme, Physik und seine Eismaschine. „Und wo haben Sie die Energie dann hingetan?“ wollte Frank wissen. „Das ist eine gute Frage. Um Euch das zu zeigen, hole ich eine Leiter.“ Er stellte die Leiter an eine Zimmerwand, und bat die beiden nacheinander hinaufzuklettern. „Seht Ihr das Lüftungsgitter dort? Von dort kommt die Energie aus dem Eis“ Sie spürten den warmen Luftstrom an ihren Händen, und hörten das entfernte Brummen aus dem Werkraum. Die beiden schauten Herrn Finke verwundert an. „Wenn Ihr das nächste mal kommt, kann ich Euch das gerne genauer erklären. Auf dem Heimweg fragte Tobias Frank „hast Du das verstanden, das mit dem Energie wegnehmen?“ Frank schüttelte den Kopf. „Aber wir könnten öfter bei ihm Tee trinken. Und – wenn Du willst – wir könnten eigentlich den ganzen Iglu zusammen bauen.“ Das wollte Tobias, und er freute sich sehr.

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