Wir, der Westen

Über römische DNS und einen Text von Julian Reichelt.

Ich greife hier bewusst die Redewendung „Wir, der Westen“ aus einem Text von Julian Reichelt auf. Das Original fährt fort: „Wir, der Westen, haben diesen Krieg [gegen den islamistischen Terrorismus] weder gewollt, noch begonnen.“
Reichelt setzt dabei das Wesen des Westens als selbstverständlich bekannt voraus. Für Reichelt ist die Essenz des Westens vermutlich: Christentum. So wie der Begriff „christliches Abendland“ ja bereits den Westen beinhaltet. Reichelt benutzt „Westen“ als Umschreibung für Christentum, damit seine Aussage nicht lautet: Die Christen befinden sich im Krieg gegen den islamistischen Terrorismus, und die Christen haben diesen Krieg weder gewollt, noch begonnen. (Das wäre nicht weniger wahr als die von Reichelt veröffentlichte Aussage, aber es wäre wohl weniger eingängig. Man muss einen Gedanken sicherlich sorgfältig feilen, damit er sich im Gehirn eines Bild-Lesers nachbilden kann.)

Julian Reichelt hat hier einen klugen und zielführenden Text abgeliefert. Mit klug meine ich nicht nur, dass Orthografie, Satzbau etc. für eine überdurchschnittliche intellektuelle Begabung des Autors sprechen. Nein, der Autor macht sich auch geschickt die zu erwartenden Wissenslücken seiner Leser zu Nutze. Wenn er auf die jahrelange Erfahrung der von ihm befragten US-Geheimdienstler und Militärs verweist, dann setzt er sicherlich zu recht darauf, dass seinen Lesern die Anschläge von 1995 in Paris nicht bekannt sind, dass ihnen die Taten der RAF entgangen sind, ja dass die mindestens 2370 Jahre Erfahrung, die die Griechen, die Römer und deren kulturellen Erben, die wir heute als Europäer bezeichnen, seit Herostratos mit Terror (und angemesser Reaktion auf Terror) gesammelt hat, seinem Leser weitgehend unbekannt sind. Und so kann er US-amerikanische Beamte zu Experten in Sachen Terrorbekämpfung stilisieren.

Wenn Reichelt seine Kernthese präsentiert „Wir, der Westen, haben diesen Krieg weder gewollt, noch begonnen“, dann setzt er zudem voraus, dass seine Leser nur über rudimentäre Kenntnisse der eigenen kulturellen Herkunft verfügen, und dass sie mit dem Christentum ein diffuses, von Mutter Teresa geprägtes positives Bild christlicher Werte verbinden.

Obwohl ich mich mit der Biographie des Jesus von Nazaret so intensiv auseinander gesetzt habe wie mit keiner anderen, weiß ich wenig von ihm und seiner Zeit. Ich halte es jedoch für erwiesen, dass die meisten Mitglieder der (jüdischen) jerusalemer Urgemeinde im jüdischen Krieg getötet wurden, und dass die römische Kultur und römische Bürger wie Paulus von Tarsus die sich bildende christliche Religion entscheidend geprägt haben. Mit römischer Kultur meine ich hier überlegene Militärtechnik, herausragende Aggressivität, eine auf Raub und Beute ausgerichtete Wirtschaft und eine ausgeprägte Fähigkeit, kulturelle Errungenschaften militärisch besiegter Völker zu übernehmen.

Wenn ich dem friedfertigen Bild des Westens widerspreche, dass Julian Reichelt entwirft, dann möchte ich das gründlich tun:

Wir, der Westen, sind tief geprägt von der römischen DNS des Militarismus. Die Lehren des Jesus von Nazaret bilden eher ein dekoratives Element der Oberfläche.

Die Belege der Agressivität unserer kulturellen Prägung sind zahlreich, die hier herausgegriffenen Beispiele sind willkürlich gewählt:

  • Die Kreuzzüge. Der Vierte Kreuzzug, der in der mehr oder weniger „versehentlichen“ Zerstörung des christlichen Konstantinopels gipfelte sei als besonders abschreckendes Beispiel herausgegriffen.
  • Der Atlantische Dreieckshandel. (Links zur: WikipediaBundeszentrale für politische Blildung zum Massenmord an 664 an Bord der Leusden Verschleppten. Link zu eigenen Fotos aus Hochburgen des Sklavenhandels Sansibar und La Gorée – Senegal sowie dem National Maritime Museum in London werden bei Gelegenheit folgen.)
  • Die Kolonisierung. Wie Desmond Tutu sagte: „Als die ersten Missionare nach Afrika kamen, besaßen sie die Bibel und wir das Land. Sie forderten uns auf zu beten. Und wir schlossen die Augen. Als wir sie wieder öffneten, war die Lage genau umgekehrt: Wir hatten die Bibel und sie das Land.“ (Zitiert nach Spiegel-Online.)
  • Der Völkermord an den Herero im Jahr 1904 im Gebiet des heutigen Namibia (Link zu Spiegel.de)
  • Die Opiumkriege 1 und Nr. 2, in denen die Briten als größte und brutalste Drogendealer der Weltgeschichte auftraten.
  • Die Austreibung der Demokratie aus dem Iran.
  • Der erste Weltkrieg. Von den ganzen Ungeheuerlichkeiten in diesem großen Schlachten möchte ich nur beispielhaft Lenins Reise durch Deutschland im April 1917 herausgreifen, die eine kurzsichtige Deutsche Regierung organisierte. Um eines kurzfristigen militärischen Vorteils Willen nahm sie einen Bürgerkrieg in Russland und eine langfristige Destabilisierung Europas in Kauf. (Wer behauptet, die Politik der USA wäre typischerweise kurzsichtig und neige dazu, die Welt in Chaos zu stürzen, der sollte sich diese Episode genauer anschauen.)
  • Der Luftangriff auf Guernika.
  • Der zweite Weltkrieg. Die Japaner waren zwar ohne römische DNS ebenfalls zu Gräueltaten fähig. Doch Adolph Hitler war sicherlich mit der römischen DNS geprägt. Er berief sich auch ausdrücklich auf Vorbilder wie Friedrich den Großen, dessen römische DNS wohl unstrittig ist. Und Hitler prägte katholische Kirchenpolitik, um es vorsichtig auszudrücken. Ein guter Einstieg hierzu findet sich auf faz.net.
  • Bombenterror gegen Zivilbevölkerung im zweiten Weltkrieg.
    Darunter fallen Kriegsverbrechen der Deutschen wie der Luftangriff auf Rotterdam im Mai 1940 oder die Angriffe auf London vor 75 Jahren genauso wie die der Area Bombing Directive folgenden Kriegsverbrechen der Alliierten wie die Bombardierung Lübecks im März 1942 oder die Bombardierung Hamburgs 1943 oder auch die Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki. Es mag unpassend erscheinen konventionelle Terrorangriffe und die Atombombenabwürfe in einem Zug zu nennen. Denn die Atombombenabwürfe sollten ja nicht ausschließlich die Zivilbevölkerung treffen, und stellten also keinen so eklatanten Verstoß gegen die Haager Landkriegsordnung dar wie der konventionelle Bombenterror. Ich möchte lediglich darauf hinweisen, dass durch geschickte Planung (Ausnutzung spezieller Wetterlagen etc.) mit konventionellem Bombenterror ähnlich viele Menschen getötet wurden wie mit Atombomben. Letztere bieten schlicht eine logistisch unkompliziertere Art des Tötens. In der Nacht vom 27. – 28.7.43 starben in Hamburg laut Wikipedia mehr Menschen, als am am 9. August 1945 in Nagasaki. Lesenswert auch der Artikel auf Welt.de zum Denkmal fuer britische Bomberpiloten. (Laut dieser Quelle fielen dem Bombenterror rund 600.000 Zivilisten zum Opfer. In einem anderen lesenswerten Artikel auf Welt.de wird der Historiker Richard Overy mit niedrigeren Opferzahlen zitiert, „nur“ 353.000 Tote in den zerbombten deutschen Städten. Auf Wikpedia wird von einer alliierten Planung, 900.000 Zivilisten zu töten, berichtet. Falls dies wirklich der alliierte Plan war, so wurde der Plan verfehlt.  Originalquellen für diese Zahl sind noch zu erbringen.)

Wo sind im Buch der Geschichte vergleichbare Gräuel aus einem islamisch geprägten Kulturkreis verzeichnet?

Gegen den Islam wird gerne eingewendet, dass er sich mit dem Konzept der Menschenrechte schwertut. Dabei sollte man jedoch nicht vergessen, wie schwer sich die katholischen Kirche mit diesem Konzept tat, bis sie sich (erst 1965!) in der Konzilserklärung „Dignitatis humanae“ zum universalen Anspruch der Menschenrechte bekannte.

Wir sollten folgenden klugen Rat von Daniel Bogner beherzigen:

Kultur und Religion können trotz – oder wegen – ihrer notwendigen Verbindung voneinander unterschieden werden. Um die Ursachen für Menschenrechtsverletzungen und Gewalt identifizieren zu können, müssen sie unterschieden werden.

Denn wenn wir die Agressivität unserer kulturellen Prägung mit der christlichen Religion vermengen, dann wird das Christentum hierdurch leicht als aggressivste aller großen Religionen diskreditiert.

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