Offener Brief an die Bundeskanzlerin

Sehr geehrte Frau Dr. Merkel,

ich bin froh, dass Sie in der aktuellen Flüchtlingskrise unsere Kanzlerin sind! Denn Sie gewichten das Leid der Flüchtlinge stärker, als die Ängste einzelner, Besitzstände zu verlieren. Vor über 75 Jahren haben wir Deutschen unfassbare Fluchtbewegungen ausgelöst, vor 70 Jahren waren wir ein Volk auf der Flucht. Nun besteht unsere Rolle darin, Flüchtlingen zu helfen. Und es ist gut, dass wir fähig sind, diese Rolle zu übernehmen.

Sie sind auf dem richtigen Weg, machen Sie weiter, halten Sie den Kurs durch!

Ich bin sehr beeindruckt, wie Sie sich weiter entwickelt haben nach einem schwierigen Start. Ich habe Sie tatsächlich erst ab 2003 wahrgenommen. Viele Ihrer Leistungen als Parlamentarierin mögen mit entgangen sein. Oder sie werden überschattet von ihrer Entscheidung, den 43. Präsidenten der USA zu Gewalt im Irak zu ermuntern. Sie hatten sich 2003 dem Narrativ angeschlossen, der Irak stelle eine Bedrohung dar, und den 43. Präsidenten darin bestärkt, dass der völkerrechtswidrige Überfall auf den Irak eine Option sei (Berichterstattung im Spiegel, Originalquelle: Washington Post) Wenn Sie heute dafür eintreten, dass Deutschland der Selbstverpflichtung nachkommt, Verfolgte aufzunehmen, dann tragen sie aus meiner Sicht damit auch eine eigene, persönliche Schuld ab.

Wie ist es möglich, dass eine derart kluge und gebildete Frau wie Sie den einfachen und schlüssigen Text „War on Iraq: What Team Bush Doesn’t Want You to Know“ von Scott Ritter weder 2002 noch 2003 zur Kenntnis nahm? Also eine populärwissenschaftlich geschriebene Präsentation der 2002 bekannten Fakten, an Hand derer mit höchster Sicherheit die Existenz von ABC-Waffen im Irak ausgeschlossen werden konnte? Kluge Köpfe hatten jahrelang messtechnisch nach Spuren von ABC-Waffen im Irak gefahndet, und in Dokumenten des Irak nach Hinweisen hierauf gesucht. Mit dem Ergebnis dass die Bedrohung abgenommen hatte seit dem Ende des Krieges im Irak von 1990/91. Zugegeben, der Zugang zu diesem Text wurde mir durch mein Ingenieurstudium vermutlich erleichtert. Ich habe Messtechnik studiert, und verstehe sicherlich überdurchschnittlich viel davon, wie Messergebnisse zu bewerten sind. Doch mit Ihrem wissenschaftlichen Hintergrund hätte es Ihnen doch umso leichter fallen müssen, die Arbeit anderer Wissenschaftler zu bewerten!

Wie ist es möglich, dass Sie auch 2004 noch nicht zur Kenntnis genommen hatten, dass viele, auch weniger gebildete Menschen schon vor dem Beginn des unseligen Kriegs begriffen hatten, dass Saddam Hussein 2003 keine relevante Bedrohung darstellte? (Stattdessen äußerten Sie noch 2004 öffentlich: „dass von Saddam Hussein eine Bedrohung ausgeht, hat keiner bezweifelt.“)

Ich vermute, dass Sie es seinerzeit nicht besser wussten und nicht besser erfassen konnten. Doch egal, wie kurzsichtig sie seinerzeit schienen, ich bin optimistisch, dass Sie heute über den Weitblick verfügen, den Ihr Amt erfordert.

Sie sind auf dem richtigen Weg, machen Sie weiter, halten Sie den Kurs durch!

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