Trink deinen Kaffee, 20137

[Geschrieben im Jahr 1990, 2 Monate vor Ende meiner Dienstzeit auf dem Atomraketenwerfer, 3 Jahre vor Ende der Ära Lance in Deutschland]

Hier liege ich nun. In einem Loch, zwei Meter lang, einen halben Meter breit. Wie ein Grab, nur nicht so tief. Nein, es ist nicht mein Grab. Nicht hier; nicht heute. Ich schaue nach vorne, über den öden Acker, und wache. Doch da vorne ist nichts. Von vorne kommt nichts, niemand. Das bedrohliche, unfassbare spielt sich hinter meinem Rücken ab. Dort steht er, hunderte von Metern entfernt, der Apparat. Nicht mich bedroht er, nicht heute, nicht direkt. Ich muss mich nicht umdrehen, ich kenne die Handgriffe, die die beiden Männer verrichteten, an der ungeheuerlichen Maschine. Vor Monaten, die entfernt scheinen wie Jahrzehnte, wurden sie eingeübt, als wären sie ein Sport. Wir sollten die besten sein, und wir waren es. Wie einen Götzendienst zelebrierten wir diesen unheiligen Akt. Als wenn es den angebeteten Feuergottes nicht gäbe, die religiöse Handlung nichts bewirken könnte. Doch jetzt wird dieser Gott geweckt, und wir sind es, die ihn durch unseren höllischen Kult aus jahrelangem Schlaf erwecken. Die einen haben ihn aus dunklen, traumlosen Kellern ans Tageslicht geholt, auf das ihn die Nächsten tagelang spazieren führen. Viele waren aufgeboten, ihn zu bewachen, dass ihm kein Leid zustieße. Heute nun wurde es beschlossen, er sei unseres Volkes letzte Rettung. Jetzt ist alles aus! So dachte nicht nur ich. Doch erst wir ermöglichen den letzten Wahnsinn. Jenseits der breiten Schneise, wo weder Gesetz regiert noch Vernunft, sondern nur schwirrendes Metall, das wahllos den Tod verteilt, jenseits dieses Gürtels aus Wahnsinn und Verderben wird unser Feuergott seinen Auftritt haben. Wo die Menschen sich in Sicherheit wähnen, vielleicht gerade in Ruhe ihren Morgenkaffee schlürfen, wird bald ein Sonnenfeuer erglühen. Der Kaffee verdampft. Der Mensch, die Tasse noch in der Hand, verdampft auch. Die Gaswolke verweht. Geschmolzenes Aluminium am Boden- die Tasse. Daneben- das Pulver seiner Knochen. Auf seiner Marke steht 20137. Ein schneller Tod, hygienisch und modern. Doch halt, 20137, du lebst ja noch, über 100 km von hier entfernt. Noch kocht dein Kaffee nicht, noch liegt die Rakete auf ihrem Gestell. Ihre Nase weist bereits in Deine Richtung, bedauernswerter 20137. Sie wartet darauf, dass die letzten Schalter von Menschenhand umgelegt werden, erst dann darf sie ihrer Bestimmung entgegenfliegen. Gebaut für den Wahn namens Abschreckung, wartete diese Rakete doch nur auf ihren Einsatz. Wie hat sie ihn herbeigesehnt, und nun ist er da. Ihr Triumph über des Menschen Illusionen wird dein Leben kosten, 20137, und auch tausende deiner Kameraden hinweg raffen. Als begrenzter nuklearer Erstschlag geplant, Drohgebärde in die Enge getriebener Generäle, wird dies der Anfang vom Ende sein. Der letzte Auftritt der Menschheit auf Erden beginnt. Er wird nur wenige Tage dauern. Doch noch läuft das Triebwerk dieser Rakete nicht. Wenn jetzt ein Schuss fiele, harter Messing die dünne Außenhaut durchdränge, der giftige Treibstoff zu Boden rinnend sich entzündete, die Todesmaschine tödlich verwundete, fast harmlos erschiene dann die chemische Reaktion, die mit ohrenbetäubendem Krachen den Sprengkopf zerrisse. Doch kein Geschoss hat ihre grüne Haut geritzt, niemand hat sein Gewehr gegen sie erhoben, die Rakete wartet weiter auf die letzten elektrischen Kontakte. Ein Schalter wird umgelegt, weit entfernt wird ein Kaffee eingeschenkt. Nimm den ersten Schluck 20137, dein Tod ist besiegelt. „Ich kann es nicht tun!“ könnte der schreien, der den letzten Schalter umlegen sollte, und das für einen erfolgreichen Start so notwendige Gerät mit wenigen Salven aus seiner Maschinenpistole vernichten. Doch leider, 20137, legt er den Schalter um, der elektrische Impuls rast zu Rakete, scheinbar unaufhaltsam seinem Ziel entgegen eilend. Wäre in der letzten Steckverbindung ein Draht umgebogen, so könnte der bösartige Funke nicht überspringen. Unauffällig einen Draht verbiegen, so einfach ließe sich das große Unheil abwenden. Doch unbeirrt fließt der Strom in die Zündkapseln. Vielleicht wusste ein Angestellter des großen Konzerns, aus dessen Werken diese unersetzlichen Glieder einer tödlichen Kette stammen, dieses Produkt unauffällig zu entschärfen? Doch die detonierenden Kapseln entwickeln den vorausberechneten Druck, das heiße Gas bahnt sich seinen Weg, die Flüssigkeiten des Triebwerks zu entzünden. Natürlich, 20137, könnte es versagen. Zufällig, unbeabsichtigt. Ein technischer Defekt, der das von uns Versäumte bereinigte. Kaum dass ihr Triebwerk lärmend zündet, und sie von hinten mein Sichtfeld mit ihrem Schweif aus Feuer und Rauch zerschneidet, hat sie schon das Stück flirrenden Sommerhimmels vor mir durchquert und ist meinem Blick entschwunden. Trink deinen letzten Schluck, 20137.

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