Leseprobe aus dem unveröffentlichten Roman aus der Zukunft der Jahre 2060/61 „Das Elefantenschiff und Böbs“
Manchmal muss man an das größere Wohl denken! Das hier ist Krieg!
(Hermine Granger in: Harry Potter und die Heiligtümer des Todes, Seite 577)
Vor dem Einschlafen nahm Böbs den Heuhaufen wieder in die Hand. Endlich fiel ihm wieder ein, woher er den Namen der Autorin bereits kannte. Joanne Silverstein hatte auch März ’22 geschrieben, eine literarisch aufbereitete Beschreibung und Analyse in der Tradition von Solschenizyns August 14, die sich mit dem russischen Überfall auf die Ukraine am 24. Februar 2022 und den sich anschliessenden ersten Wochen des Krieges befasste. Böbs besaß dieses Buch. Seit über einem Jahr lag es tief unten in einem Stapel ungelesener Bücher, der es immer weiter unter sich begrub. Sein Vater deckte Böbs mit einem nicht enden wollenden Strom aus dessen Sicht lesenswerter Bücher ein. Doch wie stellte der sich das eigentlich vor? Heiner musste doch wissen, dass für Böbs die Schulzeit vorbei war. Nie wieder würde Böbs zu Beginn von sechs endlosen, unverplanten Wochen Sommerferien stehen. Ja, am Ende seines vorletzten Schuljahres, da hatte er sich den Krieg und Frieden von Tolstoi vornehmen können, und als leichte Lektüre für zwischendurch eben auch den August 14. Seine Mutter und Oma Doris hatten sich einen gemeinsamen Urlaub am Gardasee vorgestellt, und Böbs war das nur recht gewesen. Warum nicht italienische Sonne? Die soll ja Michel de Montaigne beim Schreiben beflügelt haben. Dieser italienische Urlaub hatte Böbs dann tatsächlich inspiriert, nie zuvor hatte er so schnell so viel gelesen. Er durchlebte eine regelrechte russische Phase. Als einzigen Tribut an Italien hatte er Il Principe (Der Fürst) von Machiavelli eingeschoben. Aus Böbs Sicht überbewertet, jedoch von einem gewissen historischen Interesse. Danach hatte er sich wieder den Russen zugewandt, und sich mit Begeisterung Den toten Seelen von Nikolai Gogol hingegeben. Dank Hörbüchern, elektronischen Büchern und Internet konnte Böbs seiner Leidenschaft unbegrenzt nachkommen. Er war zu alt gewesen, als dass seine Mutter ihm noch Vorschriften gemacht hätte in Bezug auf Schlafenszeiten. Und er konnte mit seinen Mitreisenden zu Fuß auf den Monte Baldo hinauf wandern und nebenbei auf den Schlachtfeldern der napoleonischen Kriege verweilen. Er hatte nach harten Verhandlungen mit den beiden Frauen vereinbart, dass er jeden Tag für 2 Stunden seine Kopfhörer aus den Ohren nehmen und er dann gedanklich voll bei seinen Mitreisenden sein musste. Blieben jeden Tag 14 Stunden für die Bücher. Das war ein guter Deal gewesen.
Als Böbs nun Silversteins eigene Zusammenfassung des Ukrainekriegs im Heuhaufen las, schlug ihr Text ihn in seinen Bann. Silverstein behauptete, dass Russland spätestens am Donnerstagvormittag des 14.07.2022 den Krieg in der Ukraine verloren habe, weil sich danach der letzte und vielleicht wichtigste strategische Fehler der russischen Seite mit voller Wucht entfaltete. Silverstein schrieb:
„In den napoleonischen Kriegen gab es eine umwälzende militärische Innovation, die generelle Mobilmachung. Sie bewirkte eine schlagartige Vergrößerung der Heere, weil plötzlich ein Großteil der männlichen Bevölkerung unter Waffen gestellt werden konnte. […]
Im Herbst 1914 bewiesen die Russen ihre Unfähigkeit, diese damals bereits alte Innovation umzusetzen. Sie warfen sich in den ersten Weltkrieg, bevor sie erfolgreich mobil gemacht hatten, und verloren diesen Krieg bereits in den ersten Kriegsmonaten. Den Rest des Krieges, also die dreieinhalb Jahre bis zum Separatfrieden von Brest-Litowsk vom März 1918, benötigte das riesige russische Reich nur, um zu sterben.
Weiterhin machte Russland im ersten Weltkrieg den Fehler, die Technologie des Funks einzusetzen, ohne dass das Heer ausreichend geschult war in der dafür notwendigen Technologie der Kryptographie. Diese beiden Fehler hat Solschenizyn in August 14 sehr anschaulich dargestellt.“
Dem konnte Böbs nur zustimmen. Die Russen mochten im Bereich des Militärischen nicht immer eine glückliche Hand haben, aber im Schreiben von Romanen waren sie Meister. Böbs las weiter:
„Weiterhin lässt sich argumentieren, dass der russische Bär von 1815-1914 in einem tiefen Winterschlaf lag, während sich der preußische Staat mit den Stein-Hardenbergschen Reformen in allen Bereichen modernisierte.
Im Ukraine Krieg hat Russland alle drei Fehler reproduziert. Russland war in allen Bereichen rückständig. Unzureichende russische Truppen wurden ohne generelle Mobilmachung in diesen Krieg geschickt. Und die Funktechnologie wurde genutzt, anscheinend ohne dass die militärische Führung überhaupt begriffen hätte, dass private Handys in den Hosentaschen der Soldaten eine dramatische Sicherheitslücke sind. Da fragt man sich doch: ‚was machten Putins Generäle damals eigentlich beruflich?‘
Viertens und letztens haben die Russen auch in der 2022 vergleichsweise neuen Domäne, dem Medienkrieg, dem Krieg der Bilder, desaströs verloren.
Die Russen hatten nicht die militärische Bedeutung der Bilder begriffen, und sie hatten nicht begriffen, wie sehr der technische Fortschritt den Transport von Bildern und reich bebilderten Geschichten erleichterte. Stattdessen haben sie sich der Illusion hingegeben, durch Repression den Gedankenaustausch der Bürger einschränken und kontrollieren zu können.
Jedes russische Kind kannte die Entstehungsgeschichte des Archipel Gulag von Solschenizyn, und wußte, unter welchen Mühen dieser Autor seine Manuskripte vor dem allmächtigen KGB versteckt hatte. Putin selber kannte sie zweifellos auch. Denn er war ein Fan Solschenizyns; er machte im Jahr 2009 den Archipel Gulag zur Schullektüre.
Putin und seine Generäle kannten die Geschichte, wie Solschenizyn seine Manuskripte versteckt hatte, und sie kannten und benutzten sicherlich im Jahre 2022 microSD Speicherkarten – anscheinend ohne zu realisieren, welch zuvor nie dagewesene Versteckmöglichkeit für Manuskripte diese digitalen Speicher boten.

Ein winziges Plättchen von 0,7 mm Dicke, und 11 × 15 mm Fläche fasste im Jahr 2022 locker 128 GByte und mehr. Die offiziell angegebene Dicke von 1 mm bezog sich nur auf einen Vorsprung zum besseren Greifen, den man ohne Schaden abschleifen konnte, wenn man dieses Plättchen in dem Einband eines scheinbar harmlosen Buches, wie beispielsweise der Bibel, verstecken wollte.
Doch diese Militärstrategen vollzogen in den 2020ern offenkundig nicht den Schritt vom Beobachten zum Begreifen. Deshalb wurden sie nach dem 14.07.2022 von den Bildern der kleinen Lisa erledigt. Diese kleine Heldin, an der die russischen Großmachtsträume zerbrachen, hatte das Down-Syndrom und ihre Fröhlichkeit, ihr Leben mit der Krankheit waren im Netz dokumentiert, und jeder, dem der russische Staat Zugang zum Internet verweigern wollte, konnte diese Bilder problemlos offline auf einer Micro SD Speicherkarte erhalten. Tatsächlich dauerte es noch bis August 2022, bis die bebilderte Geschichte der kleinen Lisa in der Form geschaffen war, in der sie mittlerweile in die Geschichtsbücher eingegangen ist. Denn die Geschichte der kleinen Lisa musste richtig erzählt werden, in dem passenden Tonfall, mit der geeigneten Sprache, und das musste natürlich die russische Sprache sein. Was nützte es, wenn der Westen sich zu seiner Bestätigung immer wieder Erfolgsgeschichten zum Verlauf dieses grausamen Angriffskriegs erzählte, wenn diese Geschichten nicht ins Russische übersetzt und fürs russische Volk zugänglich wurden?
Die Geschichte der kleinen Lisa war aber auch eine Geschichte der Unfähigkeit der russischen Generäle. Diese spielten die undankbare Rolle der verkörperten Lernresistenz. Als Putin von einem engen Freunde ein Exemplar der microSD-Karte mit Lisas Geschichte erhielt, da begriff er, dass der Krieg für ihn verloren war. Und er erkannte, dass die Unfähigkeit seiner Generäle für alle Welt offensichtlich war. Die goldene Brücke, über die westliche Denker so viel geschrieben hatten, die man Putin bauen müsse, damit dieser den Krieg gesichtswahrend beenden könne, war bereits Teil der auf der microSD-Karte enthalten Geschichte. Und sie war tatsächlich nicht golden, sondern aus Platin. Putin begriff, dass sich abgesehen von einigen ewiggestrigen Kriegstreiber niemand im Westen wünschte, dass Russland in den 2020ern ähnlich lange ausblutete wie im ersten Weltkrieg, um dann ebenso vollständig zu sterben wie damals.
Wladimir Putins Exemplar der bebilderten Geschichte der kleinen Lisa gehört mittlerweile zu den wichtigsten Exponaten im staatlichen historischen Museum in Moskau, das sich noch immer in dem Gebäude im Zentrum Moskaus an der Nordwestseite des Roten Platzes befindet, das am Tag der Krönung des Zaren Alexander III., am 27. Mai 1883 unter dem Namen Kaiserlich-Russisches Historisches Museum erstmals seine Pforten öffnete.
Putin dokumentierte seinen Lernprozess öffentlich und setzte sich, sehr geschickt, von der Lernresistenz seiner Generäle ab. Seine Fähigkeiten als Diktator wurden danach, bis zu seinem natürlichen Tode, nicht noch einmal in Frage gestellt. Auch Diktatoren machten Fehler. Wichtig war, wie sie aus ihren Fehlern lernten.
Wir wissen nicht, ob Wladimir Putins Gegenspieler, der ukrainische Präsident Wolodymyr Oleksandrowytsch Selenskyj, die Geschichte der kleinen Lisa bereits kannte, als er von Vladimir Putin das offiziell überlieferte Exemplar der microSD-Karte erhielt, als Zeichen einer neu erwachten Gesprächsbereitschaft. Wenn ja, dann war Selenskyj so klug, diesen Umstand zu verschweigen. Denn er war Medienprofi. Er wusste, dass die Geschichte vom Ende des Ukrainekrieges eine gemeinsame Geschichte von ihm und Putin sein musste. Und wenn er, Selenskij, schon diesen Krieg gewann, dann musste Putin den Frieden gewinnen. Putin musste derjenige sein, der schnell war im Lernen, der einen nichtsahnenden Selenskij mit nie dagewesenen Gesprächsangeboten überraschte. Und Putin hatte sich immerhin die Mühe gemacht, eine besonders alte microSD-Karte mit nur 1 GB Speicherkapazität aus den Archiven des KGB heraussuchen zu lassen, zu einer Zeit, wo man auch in den Elektronikgeschäften Moskaus kaum kleinere Kartengrößen als 32 GB finden konnte. Dieses Relikt der Technikgeschichte war also in doppelter Hinsicht historisch. Eine feine Selbstironie, die Selenskij sehr zu würdigen wusste.
Die Geschichte dieser beiden miteinander korrespondierenden microSD-Karten hat eine feine, leicht zu übersehende Pointe. Der Inhalt dieser Karten ist absolut identisch, er ist in russischer Sprache geschrieben und er war gerade deshalb für den ukrainischen Präsidenten sofort zu erschließen, denn russisch war dessen Muttersprache, nicht ukrainisch. Diese Speicherkarten erzählten somit auch die Geschichte der Freundschaft zweier Völker, die die gleiche Sprache sprechen, auch wenn das Russische seit der Unabhängigkeit der Ukraine im Jahr 1991 dort nicht mehr Amtssprache ist. Es ist eine Geschichte der Freundschaft, die durch den Wechsel von Machtverhältnissen belastet ist und sich in der Krise bewähren muss.
Selenskijs Exemplar der microSD-Karte befindet sich im Nationalen Historisches Museum der Ukraine, im ältesten Teil Kiews in der Wolodymyrska-Straße Nummer 2 im Rajon Schewtschenko.“
Böbs bekam Fernweh vom Lesen. Moskau, fast alle russischen Autoren, die er so liebte, waren irgendwann dort gewesen, auch zu Zeiten, wo Petersburg Hauptstadt und kulturelles Zentrum gewesen war. So schrieb Wikipedia über Lew Tolstoi: „Ab 1855 lebte er abwechselnd auf dem Gut Jasnaja Poljana, in Moskau und in Sankt Petersburg.“
Böbs schlug das Buch zu. Silversteins anschauliche, leicht nachvollziehbare Sprache gefiel ihm. Doch er wunderte sich, warum sie nicht auf die in Russland endemische Korruption eingegangen war. Die hatte der russische Autor Gogol in Die toten Seelen doch so anschaulich beschrieben. War Silverstein etwa nicht aufgefallen, dass es diese Korruption bereits vor über 200 Jahren gegeben hatte? Andererseits hatte die Autorin ein paar verblüffende Bemerkungen zu Leo Tolstoi gemacht. Sie legte nahe, dass Tolstoi seine russischen Artilleristen mit Kartätschen, Militärtechnik des 15. Jahrhunderts, habe schiessen lassen, als die Engländer längst die Schrapnell-Granaten erfunden hatten. Sollte dieser Titan der russischen Literatur wirklich ohne es zu bemerken einen technologischen Rückstand des russischen Militärs dokumentiert haben? Böbs prüfte schnell die Fakten. Krieg und Frieden war gemeinfrei über das Internet verfügbar. Und wirklich, in Tolstois Beschreibung der Schlacht von Borodino im Jahr 1812 spielte die Artillerie eine entschiedene Rolle, hatte aber offenbar für entfernte Ziele nur Steinkugeln zur Verfügung. Französische Infanteristen, die in die Nähe der russischen Kanonen kamen und diese bedrohten, wurden mit Kartätschen beschossen, die im Grunde wie Schrotgewehre funktionierten: Sobald die Geschosse den Lauf verliessen, zerlegten sie sich in einzelne Kugeln, die sofort einem erhöhten Luftwiderstand unterlagen und deshalb nur eine kurze Reichweite hatten. Böbs wusste, dass die Franzosen unter Napoleon ebenfalls mit Steinkugeln geschossen hatten, denn davon steckten noch einige Exemplare im Harburger Schloß. Stein war damals sicherlich viel billiger als Eisen. Doch es war schon verblüffend, dass Tolstoi auch in dem in den 1850ern geschriebenen Sewastopol-Zyklus die siebzig Jahre zuvor vom Briten Henry Shrapnel erfundenen Geschosse nicht erwähnte.