fatale Fantasie

Männer und Frauen sind gleichberechtigt. Was ist an Artikel 3 Absatz (2) des Grundgesetzes nicht zu verstehen?

Diesem Satz mit fünf Wörtern, der sprachlich bereits für Grundschüler verständlich sein sollte, wurde erst 1994 ein zweiter Satz mit 20 Wörtern angefügt, den ein durchschnittlicher Grundschüler wohl nicht erfasssen kann. (Wer diese Bastelei an unserem Grundgesetz nachvollziehen möchte, der wird hier im Internetarchiv fündig, auf Seite 125 der PDF-Datei.)

Der Reisepass meines Großvaters von 1952 soll die Fantasie der Verwaltungsapparate veranschaulichen, mit der gute und sehr einfach formulierte Gesetze wie Artikel 3 Absatz (2) des Grundgesetzes (der wie gesagt 1952 nur aus fünf Wörtern bestand) falsch ausgelegt werden.

reisepassDie Leitung der ausstellenden Behörde war anscheinend nicht mit der Gleichberechtigung einverstanden. Sie ließ Pässe ausstellen, die das Recht des Ehemannes dokumentierten, sich im Ausland frei zu bewegen, und die Pflicht der Ehefrauen festschrieben, Ihrem Ehemann zu folgen. Sicher gab es eine fantastische Erklärung dafür, wie das mit dem Grundgesetz vereinbar sei.

Solcher Fantasie begegnet man dort, wo Gesetze in erster Linie als Mittel zur Durchsetzung staatlicher Macht missverstanden werden und nicht als Begrenzung staatlicher Macht akzeptiert sind. Doch Gesetze sind auch dafür da, von den staatlichen Verwaltungen beachtet zu werden – auch wenn ein Minister oder eine Ministerin beispielsweise von einem „Supergrundrecht Sicherheit“ fantasiert.

Fatal ist solche Fantasie, wenn Verwaltungsapparate das Recht auf Unversehrtheit und das Recht auf Leben der Bürger in Frage stellen. Das betrifft beispielsweise:

  • die Fantasie des deutschen Verwaltungsapparats, mit der die Massenexekutionen der Jahre 1933-45 gerechtfertigt wurden.
  • die Fantasie, mit der die CIA das Folterverbot brach (theguardian.com zu Foltermethoden der CIA) und die Fantasie, mit der Richard Cheney und willfährige Juristen die Grundlage hierfür legten (hier auf stern.de nachgezeichnet.)
  • die Fantasie des deutschen Verwaltungsapparats, mit der die Bereitstellung der Flächen und Infrastruktur in Ramstein für die aktuellen drohnenbasierten Massenexekutionen gerechtfertigt werden. Warum sich ein Kölner Gericht nicht mit dem Drohnenterror befassen will lässt sich hier auf sueddeutsche.de nachlesen. Eine fantastische Erklärung.
  • Die Fantasie der ehrenwerten Richter des Landgerichts Berlin, die den ehrenwerten Richter Hans-Joachim Rehse von der Anklage der Rechtsbeugung freisprachen. Rehse wirkte in der Nazizeit an mindestens 231 Todesurteilen mit. Der Fall ist in dem Roman „Mein Jahr als Mörder“ von Friedrich Christian Delius sehr anschaulich nachgezeichnet. Dieser Fall wird hier herausgegriffen, weil er die Klammer schlägt zwischen dem deutschen Verwaltungsapparat der Nazizeit einerseits und andererseits demjenigen der Bundesrepublik.

In den 1980er Jahren konnte man den Optimismus besitzen, die Exzesse staatlicher Macht gegen die eigenen Bürger und Bürger fremder Staaten im Nationalsozialismus für einen einzigartigen „Unfall der Geschichte“ zu halten. Die Frage „warum habt Ihr nichts getan?“ blieb weit gehend unbeantwortet. Doch ab den 1990ern kam das Ausmaß des staatlichen Terrors in der ehemaligen DDR ans Licht (dazu ein Überblick von 2010 auf welt.de.) Und heute sind Exzesse staatlicher Macht gegen die eigenen Bürger und Bürger fremder Staaten die neue Norm. Insbesondere beschneidet der US-amerikanische Verwaltungsapparat die Meinungsfreiheit aller Erdenbürger, die elektronische Medien nutzen wollen. Doch dieser Verwaltungsapparat produziert auch Todeslisten und arbeitet Todeslisten ab. Nur ein objektiver „Nutzen“ ist erkennbar: Der miltärisch-industrielle Komplex wächst und gedeiht. Die Rechtfertigungen der Beteiligten müssen fantastisch sein, bleiben aber überwiegend im Dunkeln. Auf Tausende funktionierende Rädchen im System kommen nur einige wenige, denen die Fantasie fehlt, ihr Handeln zu rechfertigen. Nur Ausnahme-Persönlichkeiten wie Edward Snowden steigen aus und tun etwas gegen die Rechtsbrüche.

Die Frage „warum habt Ihr nichts getan?“ wurde nach 1945 der untätigen Mehrheit gestellt. Auch heute bleibt die Mehrheit untätig, während Grundrechte beschnitten und Todeslisten abgearbeitet werden. Häufige Antworten sind heute: Da kann man nichts machen. Ich habe ja nichts zu verbergen. Ich bin kein Terrorist, ich habe also nichts zu befürchten. Ich habe nicht Bart und lange Haare, ich habe also nichts zu befürchten. Ich lebe in Deutschland – über mir kreisen keine Drohnen.

Da kann man nichts machen. Selbst unter den extremen Bedingungen Nazideutschlands hat sich diese pessimistische Annahme als falsch erwiesen. Sie wurde durch viele Beispiele wiederlegt, hier sei nur beispielhaft Oskar Schindler genannt.

Der fatalen Fantasie in den Verwaltungsapparaten steht eine erschreckende Fantasielosigkeit der Bürger gegenüber!

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