Ist Bürokratieabbau erledigt?

Der Bundestag spricht seit der 10. Wahlperiode über „Bürokratieabbau“. Synonyme wie „Entbürokratisierung“ und „Rechtsbereinigung“ tauchen schon in weit früheren Protokollen auf. In der 16. Wahlperiode tauchten diese Begriffe in 680 Dokumenten des Bundestags auf. Seitdem flaut der Trend wieder ab.

Das Schlagwort „Bürokratieabbau“ und die mehr oder weniger gleichbedeutend verwendeten Begriffe „Entbürokratisierung“ und „Rechtsbereinigung“ haben also ihren Höhepunkt überschritten – ganz im Gegensatz zum Schlagwort „Digitalisierung“, wie folgende Gegenüberstellung zeigt: 

(Quelle: eigene Abfragen mit den genannten Suchbegriffen in pdok.bundestag.de im Dezember 2018. Älterer Beitrag zum Thema Digitalisierung)

Man könnte den Politikern vertrauen und annehmen, dass diese tatsächlich „die Bürokratie abgebaut“ haben. Damit hätte sich das Thema erledigt, und es wäre logisch, dass das Interesse nachlässt.

Zur Einordnung sei ein Blick in eine Rede von Joachim Clemens (CDU) empfohlen. Der verwendet zum ersten Mal den Begriff „Bürokratieabbau“ in einer Rede zum „Zweiten Rechtsbereinigungsgesetz“ (Seite 74 im Plenarprotokoll Nr. 10/223 vom 20.06.1986):

„Für das intensive Angehen des Problems Bürokratieabbau möchte ich namens der CDU/CSU der Bundesregierung ein Kompliment machen. Es besteht aber kein Grund, sich auf diesen Lorbeeren auszuruhen. Ein riesengroßes Betätigungsfeld liegt noch vor uns, wenn die Entbürokratisierung überhaupt für unsere Bürger spürbar werden soll“

Entbürokratisierung nicht spürbar

Mir sind keine objektiven Mittel bekannt, um den Bürokratieabbau (oder Aufbau) objektiv zu messen. Ich kenne keine einfach zugängliche Statistiken zur Menge der gültigen Gesetze, Paragraphen, Verordnungen etc.

Dafür sollen folgende Beispiele aus meinem persönlichen Erleben erklären, warum Entbürokratisierung für mich nicht spürbar ist.

  • Riester-Rente – Bei ihrer Einführung wurde diese als Lösung für das Problem der sich wandelnden Altersstruktur beworben. Das demografische Problem, dass immer weniger junge Menschen für die Versorgung von immer mehr älteren Menschen aufkommen müssen sollte durch den Aufbau neuer Versicherungesstrkturen begegnet werden. Doch die zusätzlichen Gesetze, Formulare und Versicherungsverträge scheinen vor allem zu mehr Bürokratie geführt zu haben. Aus Tonnen zusätzlich beschriebenen Papiers und Gigabyte zusätzlicher Dateien ist wohl noch kein einziger zusätzlicher Beitragszahler entstanden. Und die Lektüre dieser Papiere dürfte auch bei kaum jemanden zu einem Kinderwunsch geführt haben. In den Stunden, in denen sich autoritätsgläubige Bürger mit diesem Bürokratiemonster befasst haben um ihm einen Sinn zu entnehmen und es irgendwie für sie nutzbar zu machen haben, werden sie jedenfalls keine Kinder gezeugt haben.
  • Steuerrecht: Es scheint keinen für Angestellte praktikablen Weg zu geben, die Gebühren für eigene Patentanmeldungen von der Steuer abzusetzen. Zwar sind Ausgaben für Patentanmeldungen dem Wesen nach Ausgaben in der Hoffnung auf Einnahmen in späteren Jahren. Doch für eine steuerliche Anrechnung stellt der Fiskus abwegige bürokratische Anforderungen.
  • Der zunehmenden Regulierung des Datenaustauschs mit Elektrizitätszählern und anderen Verbrauchszählern ist ein Produkt zum Opfer gefallen, an dessen Entwicklung ich persönlich beteiligt war. Hintergrund: Ab 2007 hat die private Wirtschaft in einem eher wenig regulierten Umfeld ein aufwändiges Konzept erarbeitet, mit dem Verbrauchsdaten aus Haushalten aus der Ferne abgelesen werden sollten. Im Mittelpunkt stand ein „MUC“ genannter Kleincomputer. Das hierzu vom Forum Netztechnik/Netzbetrieb im VDE (FNN) veröffentlichte Lastenheft  umfasst weit über 100 anspruchsvolle Seiten. Die Umsetzung hat mich und mehrere Kollegen einige Jahre beschäftigt. Doch die Datenschutzbeauftragten des Bundes kritisierten einen Mangel an Regulation. In ihrer 80. Konferenz am 3./4. November 2010 beschlossen sie: „Die zur Einführung digitaler Zähler bisher erlassenen Rechtsnormen schützen die Privatsphäre der Verbraucher nur unzureichend“ (Quelle)
    Dies führte zum Entwurf eines Gesetzes zur Neuregelung energiewirtschaftsrechtlicher Vorschriften, zu neuen Gesetzen, Verordnungen und technischen Richtlinien, in deren Mittelpunkt ein Kleincomputer steht, der nun „Smart Meter Gateway“ genannt wird und an den technische Anforderungen im Umfang von vielen Tausend Seiten gestellt werden. Einen Einblick in den gewaltigen Lesestoff gibt das Dokument Smart-Meter-Gateway.pdf des BSI, also der federführenden Behörde.
    Der „MUC“, an dessen Entwicklung ich beteiligt war, ist damit natürlich Geschichte.
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